Die Lungenheilkunde im Nationalsozialismus
Über das Buch
Für die institutionalisierte Lungenheilkunde, repräsentiert durch die Deutsche Tuberkulose-Gesellschaft (DTG) und das Zentralkomitee zur Bekämpfung der Tuberkulose (DZK), war die Tuberkulose in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts das beherrschende Thema. Auch für die Gesundheitspolitik der Nationalsozialisten hatte die Bekämpfung der TB oberste Priorität. Von Beginn der Machtübernahme an hatten sie in der Medizin einen generellen Paradigmenwechsel vollzogen: Die Gesundheitsfürsorge sollte nicht mehr – wie seit Hippokrates – der Behandlung des einzelnen Patienten, sondern der Gesunderhaltung des „deutschen Volkskörpers“ dienen, getreu dem nationalsozialistischen Grundsatz „Gemeinnutz geht vor Eigennutz“.
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Arbeitsunfähige TB-Kranke galten als biologischer und sozialer „Ballast“. Sie waren für die „Volksgemeinschaft“ wertlos und mussten sozial ausgegrenzt werden. So konnte man ihnen das im Sommer 1933 eingeführte „Ehestandsdarlehen“ verweigern, ab 1935 auch das Heiraten untersagen.
Ab 1938 konnten „Offentuberkulöse“, die sich uneinsichtig zeigten, als „asoziale Bazillenstreuer“ durch Amtsärzte der staatlichen Gesundheitsämter – meist Lungenärzte – zwangsweise asyliert werden. Dort fielen unter gefängnisähnlichen Bedingungen und bei knapper Verpflegung die meisten Patientinnen und Patienten in kurzer Zeit der Tuberkulose zum Opfer.
Besonders unmenschlich war der Umgang mit TB-kranken Häftlingen in den Konzentrationslagern, in denen die Krankheit stark gehäuft auftrat. Tausende erlitten dort den vorzeitigen Tod durch planmäßige Vernachlässigung bis hin zum Verhungern, durch Missbrauch für medizinische Experimente oder sie wurden schlichtweg ermordet.
Mit dem Buchprojekt holt die DGP eine tiefergehende Auseinandersetzung mit dem Thema nach, die sie in früheren Publikationen ansatzweise begonnen hatte. Unser Interesse gilt in erster Linie dem Aufzeigen von teilweise nur graduellen Verschiebungen im „Tuberkulose-Diskurs“ und deren z.T. inhumaner Realisierung. Denn was in der Weimarer Republik nur theoretisch diskutiert worden war, setzte der Nationalsozialismus rigoros in die Tat um. Es gilt zu klären, mit welchen Maßnahmen die NS-Gesundheitspolitik versuchte, den Kampf gegen die Tuberkulose zu gewinnen. Wie positionierten sich die Protagonisten der Lungenheilkunde und der Gesellschaft unter den veränderten Rahmenbedingungen – als Vorkämpfer, als Mitläufer oder „nur“ als schweigende Masse? Und wie eng war die „Zweckbeziehung“ zwischen NS-Regime und den Wortführern in Tuberkulosepraxis und Tuberkuloseforschung?
Diese Themenschwerpunkte werden in dem über 300 Seiten starken Buch ausführlich geschildert. Ausschnitte aus den Beiträgen aller Autorinnen und Autoren sind auch für die Ausstellung verwendet worden.
Verlegt von der Deutschen Gesellschaft für Pneumologie und Beatmungsmedizin e.V.
Herausgeber: Robert Loddenkemper, Nikolaus Konietzko, Vera Seehausen,
unter Mitarbeit von Florian Bruns und Astrid Ley
Design: Lindgrün GmbH
ISBN: 978-3-9817734-3-9
Herausbeger v.l.n.r. R. Loddenkemper, V. Seehausen, N. Konietzko
Sonderausstellung: Die Lungenheilkunde und ihre Institutionen im Nationalsozialismus
Die Veröffentlichung und Vorstellung des Buchs auf dem 59. Kongress der DGP vom 14. – 17. März 2018 in Dresden wurde von der Sonderausstellung die „Lungenheilkunde und ihre Institutionen im Nationalsozialismus“ begleitet. Dr. Josef Schuster, Vorsitzender des Zentralrats der Juden in Deutschland, sprach ein Grußwort anlässlich der Ausstellungseröffnung.
Grußwort von Dr. Josef Schuster
Anrede,
in den zurückliegenden Jahren bin ich regelmäßig von medizinischen Fachgesellschaften eingeladen worden, die die NS-Vergangenheit ihrer Gesellschaft und ihrer Fachrichtung hatten erforschen lassen. Stets war ich – so wie heute - aufgefordert, dazu Stellung zu beziehen. Verstehen Sie mich nicht falsch: Ich empfinde das nicht als lästig, sondern als eine Wertschätzung, und komme diese Einladungen gerne nach.
Und so danke ich auch Ihnen, sehr geehrter Herr Prof. Rabe, stellvertretend für die Deutsche Gesellschaft für Pneumologie und Beatmungsmedizin, dass ich heute Abend hier sprechen darf.
Vermutlich geht es uns allen so: Diese Auseinandersetzung mit der NS-Vergangenheit der eigenen medizinischen Fachrichtung ist von einer tiefen Ambivalenz gekennzeichnet.
Einerseits ist da ein gewisses Gefühl der Erleichterung, vielleicht sogar Befriedigung, dass sich die eigene Fachgesellschaft endlich ihrer Vergangenheit stellt. Ich empfinde diese Aufarbeitung auch als ermutigend für die Zukunft. Denn sie impliziert ein moralisches Verständnis unseres Arztberufes, das im Nationalsozialismus von vielen Ärzten ignoriert wurde.
Andererseits ist diese Aufarbeitung in zweierlei Hinsicht sehr schmerzhaft: Erstens: Sie kommt viel zu spät. Zweitens: Sie konfrontiert uns mit Menschenversuchen - an Erwachsenen und auch an Kindern - die in Wahrheit nichts anderes als Folter und letztlich Mord waren. Das Ganze dann noch unter dem Deckmäntelchen der Wissenschaft – allein bei der Lektüre über diese Verbrechen wird einem entweder kalt oder speiübel oder beides. In dem von Ihnen jetzt herausgegebenen Buch „Die Lungenheilkunde im Nationalsozialismus“ werden diese Versuche zu Recht als „moralisch entgrenzte Forschungen“ bewertet.
Die neue Studie, die ebenfalls diese ambivalenten Gefühle auslöst, bietet einen besonders interessanten Zugang zum Thema Medizin im Nationalsozialismus: Zum einen wird aufgezeigt, wie eine Krankheit, nämlich Tuberkulose, genutzt wurde, um die NS-Ideologie zu transportieren bzw. wie die Verbreitung der Krankheit quasi als Beleg für die Rassentheorie und Vererbungslehre der Nazis herangezogen wurde.
Zum anderen gehörte Tuberkulose zu den am häufigsten vorkommenden Krankheiten in den Konzentrationslagern. Was angesichts der Ernährungslage, der Masse an Menschen auf kleinstem Raum, der mangelnden Hygiene und dem mangelnden Schutz gegen die Witterung nicht erstaunlich ist.
Wer sich mit der Schoa näher beschäftigt oder so wie ich familiär mit ihr in Berührung kam, der weiß: die Befreiung aus den Lagern bedeutete für die Betroffenen nicht das Ende ihrer Leiden. Seien es posttraumatische Belastungsstörungen oder Depressionen, das alles ist bekannt. Aber ebenso kamen physische Erkrankungen hinzu. Noch 15 Jahre nach der Befreiung, also 1960, berichtete der israelische Gesundheitsminister, dass die KZ-Überlebenden zwar nur 25 Prozent der Gesamtbevölkerung ausmachten, aber 65 Prozent der TB-Fälle in Israel auf sie entfielen. So wird der Minister in der Studie zitiert.
Meine sehr geehrten Damen und Herren,
die sehr späte Aufarbeitung der nationalsozialistischen Vergangenheit finden wir nicht nur bei den Medizinern. Ob es Ministerien sind oder Unternehmen – meistens wurde die deutliche und selbstkritische Darstellung der Verstrickung in die NS-Verbrechen erst gewagt, wenn die Beteiligten nicht mehr lebten oder zumindest kein Amt mehr bekleideten.
So wie in der Justiz oder im öffentlichen Dienst haben auch viele Ärzte ihre Karriere nach 1945 unbehelligt fortgesetzt. Sie wurden nicht zur Rechenschaft gezogen, was – wenn ich hier stellvertretend für die Opfer sprechen darf – bis heute schmerzhaft und unerträglich ist.
Im Nürnberger Ärzteprozess waren gerademal 20 Mediziner angeklagt worden. Davon wurden vier zum Tode verurteilt, fünf zu lebenslangen Haftstrafen und vier zu Haftstrafen zwischen zehn und 20 Jahren. Sieben Angeklagte wurden freigesprochen. Keiner der Angeklagten zeigte im Prozess Reue oder Schuldbewusstsein.
Dass die Deutsche Gesellschaft für Pneumologie und Beatmungsmedizin nach einigen weniger umfassenden Forschungen heute diese Studie vorlegt, kann man nur wertschätzen. Denn damit setzt sie auch einen wichtigen Kontrapunkt zu jenen Kräften, die uns gerade einreden wollen, wir würden uns viel zu viel mit dem Nationalsozialismus befassen und sollten jetzt endlich stärker die ruhmreichen Zeiten der deutschen Geschichte ins Blickfeld rücken.
Ich darf in diesem Zusammenhang den früheren Bundestagspräsidenten Norbert Lammert zitieren: „Bequem ist die Auseinandersetzung mit der eigenen Vergangenheit nie, aber sie ist eine demokratische Tugend.“
Liebe Kolleginnen und Kollegen,
die Studie und die Ausstellung, die heute eröffnet wird, sind ein guter Anlass zu fragen: Wie ist es denn heute um die demokratischen Tugenden in unserem Land bestellt? Dazu möchte ich Ihnen zunächst ein paar Zahlen liefern: Im Jahr 2015 listete die polizeiliche Kriminalstatistik 1.366 antisemitische Straftaten auf. 2016 waren es 1.468. Für das Jahr 2017 fehlen noch die endgültigen Zahlen, aber sie dürften sich etwa auf dem Niveau von 2016 bewegen. Nach dieser Statistik gehen mit Abstand die meisten antisemitischen Straftaten auf das Konto von Rechtsextremisten.
Derzeit wird in Fachkreisen gestritten, ob es tatsächlich 90 Prozent sind, wie in der Statistik angegeben. Denn offenbar ordnet die Polizei alle antisemitischen Straftaten, für die sie keinen Täter näher spezifizieren kann, dem Rechtsextremismus zu. In der Wahrnehmung von Juden wird Antisemitismus hingegen auch häufig in der Konfrontation mit Muslimen erlebt. Dennoch müssen wir davon ausgehen, dass in der Gesamtzahl antisemitische Straftaten durch Rechtsextreme klar überwiegen. Hinzu kommt ohnehin eine vermutlich hohe Dunkelziffer von Straftaten, die nicht angezeigt wurden.
Ich möchte Ihnen noch weitere Zahlen nennen: Im vergangenen Jahr gab es laut Bundesinnenministerium 2.219 Angriffe auf Flüchtlinge und ihre Unterkünfte. Immerhin: Im Vergleich zum Vorjahr sank die Zahl um ein Drittel. Grund zur Entwarnung ist das aber ganz sicher nicht. Die Zahl vom vergangenen Jahr schlüsselt sich folgendermaßen auf: Es waren 1.906 Angriffe auf Flüchtlinge und 313 Anschläge auf Unterkünfte. Insgesamt wurden 300 Menschen verletzt, darunter auch Kinder.
Und schließlich noch ein Blick in die sozialen Netzwerke: Die AfD hatte mit ihrem Bundesverband im Februar 2016 rund 255.000 „Gefällt mir“-Angaben für ihre Facebook-Seite. Inzwischen sind es knapp 400.000. Zum Vergleich: Die CDU hat auf Facebook knapp 180.000 Likes, die SPD 187.000.
Lassen Sie mich diese Zahlen kurz in einem Satz zusammenfassen: Es war um die demokratischen Tugenden in Deutschland schon besser bestellt als jetzt.
Es ist daher kein Zufall, dass in der jüdischen Gemeinschaft in Deutschland seit ein paar Jahren eine wachsende Beunruhigung zu verzeichnen ist. Immer mehr Eltern neigen dazu, ihr Kind möglichst auf eine jüdische Schule zu schicken, um es vor Diskriminierung zu schützen. Generell wird die Tendenz stärker, sich in der Öffentlichkeit nicht als Jude zu erkennen zu geben, also weder eine Kippa, die jüdische Kopfbedeckung, noch eine Halskette mit Davidstern offen zu tragen.
Mit einer Auswanderungswelle von Juden aus Deutschland ist sicherlich nicht zu rechnen, das Thema aber kursiert in unseren Gemeinden wieder stärker. Das hat vor allem zwei Ursachen, die miteinander zusammenhängen: Der hohe Zuzug von muslimischen Flüchtlingen seit 2015 und die politischen Erfolge der AfD. Auf beide Faktoren will ich kurz eingehen:
Dass Menschen vor Krieg oder Verfolgung fliehen – dafür gibt es aus leicht nachvollziehbaren Gründen unter Juden ein großes Verständnis. Daher haben sich jüdische Gemeinden und Organisationen ebenso wie viele andere Menschen in Deutschland an der Flüchtlingshilfe beteiligt und tun dies zum Teil heute noch.
Jüdische Helfer mussten allerdings auch die Erfahrung machen, dass Flüchtlinge aus dem Nahen Osten zunächst fast Angst vor ihnen hatten. Denn sie waren mit dem Bild groß geworden, Juden seien ihre Feinde und wollten ihnen Böses. Einige Flüchtlinge entpuppten sich auch als Bewunderer Hitlers. Von der Schoa hatten die meisten noch nie etwas gehört.
Daher fragen sich natürlich einige Juden, was es für unser Land bedeutet, wenn in so großer Zahl Menschen mit einem so judenfeindlichen Weltbild bei uns leben. Und wir können uns in den Integrationskursen noch so sehr bemühen, die deutsche Geschichte gemäß der Fakten und unsere Wertvorstellungen zu vermitteln – es wird erfahrungsgemäß mindestens eine Generation dauern, bis sich das niederschlägt.
Diese Tatsachen lösen in der jüdischen Community Sorgen aus. Das ist aber kein Grund, Muslime pauschal zu verunglimpfen! Und eine Partei, die die Religionsfreiheit von Muslimen einschränken will oder verbal so sehr Stimmung gegen Flüchtlinge macht, dass wir uns über die hohe Zahl an Übergriffen nicht wundern müssen, eine solche Partei findet meine Unterstützung nicht!
Damit wäre ich bei der AfD. Dieses systematische Zündeln und Stimmung machen gegen Muslime bzw. Ausländer, die Versuche, die Sprache der rechtsextremen Szene salonfähig zu machen, die gezielten Provokationen – all das ruft bei uns Juden schlimme Erinnerungen hervor. Wir haben feine Sensoren für gesellschaftliche Ausgrenzung. Unsere Warnlampen leuchten längst.
Aber, meine verehrten Kolleginnen und Kollegen, ich hoffe eigentlich, dass diese Beunruhigung nicht nur bei den betroffenen Minderheiten anzutreffen ist. Vielmehr müssten die Warnlampen bei allen Demokraten leuchten!
Stillschweigend zusehen oder Kopf in den Sand – nach dieser Methode wird sich der Rechtspopulismus nicht erledigen. Wir sind alle gefragt, für unsere Demokratie einzutreten.
Wer sich damit auseinandergesetzt hat, wie die Nazis die Gesellschaft Stück für Stück auf ihre Ideologie eingeschworen haben und wie die Verbrechen dann umgesetzt wurden – dem muss klar sein, wie wichtig es ist, selbst für die demokratischen Werte einzutreten. Manchmal kann das Widerworte gegen den Chefarzt bedeuten, manchmal kann es heißen, finanziellen Verlockungen der Pharmaindustrie zu widerstehen oder zusätzlich zur Oberarztstelle auch noch Mitglied in einer Ethikkommission zu werden und noch weniger Freizeit zu haben. Wir brauchen nur 70 Jahre zurückzuschauen, um zu wissen, warum es das wert ist.
Liebe Kolleginnen und Kollegen, mit einem Zitat aus der neuen Studie möchte ich schließen, weil es genau meine Haltung zum Ausdruck bringt:
„Die Erinnerung an den NS-Terror, die millionenfache, systematische Ermordung von Menschen insbesondere jüdischer Abstammung, sollte uns mahnen, stets auf der Hut zu sein, auch in unserem scheinbar gefestigten demokratischen System, um ethische Grenzüberschreitungen, auch in der Medizin, in ihren Anfängen rechtzeitig zu erkennen und gegenzusteuern.“
Ich danke Ihnen für Ihre Aufmerksamkeit!
Dr. J. Schuster