Neue Lancet-Studie: Jeder zehnte Deutsche stirbt beatmet im Krankenhaus

Diskutieren die Ergebnisse der neuen Lancet-Studie zur Beatmung in Kliniken (v.l.): DGP-Präsident Professor Wolfram Windisch, DGIIN-Präsident Professor Matthias Kochanek sowie der Arzt und Gesundheitsökonom Professor Reinhard Busse. Fotos: Mike Auerbach, Uniklinik Köln, privat 

Die jetzt vom Lancet publizierte Studie deutscher Pneumologen und Intensivmediziner In-hospital mortality, comorbidities, and costs of one million mechanically ventilated patients in Germany: a nationwide observational study before, during, and after the COVID-19 pandemic wird die fachlichen wie auch gesellschaftspolitischen Diskussionen der nächsten Wochen bestimmen, sind sich die Deutsche Gesellschaft für Pneumologie und Beatmungsmedizin (DGP) wie auch die Deutsche Gesellschaft für Internistische Intensivmedizin und Notfallmedizin (DGIIN) einig. Das müsse sie sogar, betonen beide Präsidenten! Denn es wird mehr als deutlich: Deutschland beatmetet weitaus mehr Patienten als andere Länder mit ähnlich entwickeltem Gesundheitssystem. Dabei ist jedoch die Krankenhaussterblichkeit mit 43,3 Prozent sehr hoch, wie auch die Kosten mit insgesamt sechs Milliarden Euro jährlich.

„Friedlich zuhause sterben ist für viele Menschen nicht mehr die Realität – sie liegen oftmals in den Kliniken“, resümiert DGP-Präsident Professor Wolfram Windisch, Chefarzt der Lungenklinik an den Kliniken der Stadt Köln. „Jeder zehnte Deutsche stirbt sogar beatmet im Krankenhaus“. Es sei auffällig, dass vor allem hochaltrige Patienten sehr häufig auf den Intensivstationen beatmet würden, aber dennoch versterben. „Wir müssen uns deshalb die Frage stellen, ob wir ethisch und medizinisch das Richtige tun, wie auch gesellschaftlich-ökonomisch“, überlegt auch DGIIN-Präsident Professor Matthias Kochanek, Leiter der internistischen Intensivmedizin am Universitätsklinikum Köln.

Überraschend hohe Zahlen müssen diskutiert werden

Es gelte, die harten Fakten der Studie genau anzusehen, dann aber erst einmal sacken zu lassen, plädieren Windisch wie Kochanek. Anschließend müsse man sich als Pneumologe und Intensivmediziner jedoch ernsthaft die Frage stellen: Beatmen wir die richtigen Patienten? Sollten wir eventuell andere Wege gehen?

Fallzahlen, Mortalität und Kosten, so sagen beide, hätten sie in dieser Höhe doch überrascht. „Wir müssen uns auch die Frage nach dem Warum gefallen lassen“, sagt der DGIIN-Präsident. Beatmung bringe in Deutschland Geld in die Klinik.

Mehr Prävention und weniger Beatmung?

„Haben wir also so viele Beatmungsbetten, weil die Patienten sie brauchen? Oder brauchen wir so viele Patienten in diesen Betten, damit sich die Klinik finanzieren kann?“, fragt Wolfram Windisch.

Gleichzeitig sei Deutschland Schlusslicht bei der Tabakprävention, so der DGP-Präsident. Und Tabakkonsum sei einer der größten Risikofaktoren für viele und schwere Herz- wie auch Lungenerkrankungen, die wiederum die Hauptgründe für Beatmung auf Intensivstationen in Deutschland darstellen. Denn auch in puncto Erkrankung liegen die Daten vor. „Wir sind also in einem ganz ungünstigen Spagat: Wir verhindern die Krankheiten nicht, die wir dann aber maximal mit allem, was geht, behandeln“, so Windisch. Wäre es nicht andersherum deutlich besser?

Die Lancet-Studie gibt viele Antworten, wirft aber noch mehr Fragen auf. DGIIN-Präsident wie auch DGP-Präsident sind sich entsprechend einig: „Es ist enorm wichtig, zukünftig noch mehr Studien zur Qualitätssicherung auf den Weg zu bringen! In erster Linie muss jetzt aber mit der Krankenhausreform eine Strukturqualität eingeführt werden, die es bisher nur unzureichend gibt! Wir brauchen vor allem hervorragend ausgebildetes Personal und nicht mehr das Prinzip ‚Jeder macht alles‘.“

Ökonomisch gilt es, die Intensivmedizin als Leistungsgruppe abzubilden

Es gelte, die Studienergebnisse auch mit der Brille der Krankenhausreform zu betrachten, ordnete der Arzt und Gesundheitsökonom Professor Reinhard Busse die Ergebnisse ein. Busse ist selbst Letztautor der Studie sowie Mitglied der Regierungskommission für eine moderne und bedarfsgerechte Krankenhausversorgung. „Wir brauchen diese Beatmungsbetten nicht alle!“ Man müsse sich in Deutschland klar werden, dass eine Beatmung einen primär kurativen Ansatz hat, so der Universitätsprofessor für Management im Gesundheitswesen an der Technischen Universität Berlin.

Generell zeige die Studie aber auch, dass die Beatmung, also die Intensivmedizin, derzeit ein wichtiger und ökonomisch relevanter Bereich einer Klinik sei. „Es ist entsprechend sehr wichtig, dass wir bei der Bildung von Leistungsgruppen die Intensivmedizin eigenständig und differenziert in Versorgungsstufen abbilden, um hierüber eigene scharfe und qualitätsorientierte Strukturvoraussetzungen zu definieren. Hier darf es bei der jetzigen Reform keine weitere Verwässerung geben.“


Zum Hintergrund:

Das Team um Hauptautor Professor Christian Karagiannidis wertete die Routinedaten aller 1.003.882 Patienten ab 18 Jahre aus, die zwischen 2019 und 2022 in 1.395 deutschen Krankenhäuser beatmet wurden. Insgesamt verstarben 43,3 Prozent der Beatmeten im Krankenhaus. Dabei beobachteten die Autoren einen Anstieg der Krankenhausmortalität mit dem Alter: So verstarben 27,6 Prozent bei den 18- bis 59-Jährigen, aber 59,0 Prozent bei den ≥ 80-Jährigen. Insgesamt verstarben somit in Deutschland über 10 Prozent aller Personen mit Beatmung. Die Anzahl der beatmeten Patienten innerhalb der Gesamtbevölkerung war insbesondere bei den über 80-Jährigen mit >1 Prozent pro Jahr sehr hoch. Die Autoren ermittelten die durchschnittlichen Kosten pro beatmeten Patienten mit 22.000 Euro für das Jahr 2019 und > 25.500 Euro für 2022.

Lesen Sie hierzu auch den Beitrag im Ärzteblatt vom 8. Juni 2024